Nichtchirurgische Therapie der Adipositas
von Dr. med. Susanne Maurer, Adimed - Zentrum für Adipositas- und Stoffwechselmedizin Winterhur, Zermed - Zentrum für Ernährungsmedizin, FMH Innere Medizin / Sport- und Ernährungsmedizin DGSM/DGEM, Geschäftsführerin
Muss Adipositas behandelt werden? - Festlegung des medizinischen Zielgewichtes:
Viele Menschen denken, dass sie aufgrund eines zu hohen Body Mass Indexes (BMI) unbedingt abnehmen müssen, sie befürchten, durch den hohen BMI krank zu werden. Aber, der BMI war zunächst ein statistisches Mass für Versicherungen, Risiken aufgrund von erhöhtem Körpergewicht zu bewerten. Mittlerweile existieren nicht wenige Studien, die gezeigt haben, dass das Gewicht per se keinen krankmachenden Effekt hat.
Die Stratifizierung des Risikos entsprechend des Edmonton Obesity Score System (EOSS) offeriert eine bessere Möglichkeit, die Behandlungsnotwendigkeit unabhängiger vom BMI zu gestalten. Das so genannte 4M-System nach Prof. Arya Sharma gruppiert die Begleiterkrankungen in vier Kategorien:
- Metabolischen Begleiterkrankungen (Das sind Erkrankungen des Stoffwechsels wie zum Beispiel Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus Typ 2, erhöhte Harnsäurewerte).
- Mechanischen Begleiterkrankungen (Dazu gehören zum Beispiel erhöhter Blutdruck, Schlafapnoe, orthopädischen Probleme)
- Mentalen Begleiterkrankungen (Depressionen, Essstörungen)
- Monetäre (soziale) Probleme (Beeinträchtigungen im Rahmen der Jobsuche oder der Partnerschaft, Diskriminierung)
In Abhängigkeit der Schwere der Begleiterkrankungen werden vier Stadien eingeteilt, mit Stadium 1 (z.B. leichte Störungen des Zuckerstoffwechsels) bis Stadium 4 (z.B. diabetische Retinopathie als Endorganerkrankung des Augenhintergrundes). Eine Festlegung, bei welchem Patient welche Gewichtsabnahme erreicht werden soll, ist mit Studien nicht belegt. Dennoch kann man unter Beachtung aller oben genannter Parameter unter Hilfenahme der Dauer der Adipositas und der familiären Belastung gut funktionierende pragmatische Regeln festlegen:
- Je höher der BMI (>35 kg/m2), je länger die Adipositas besteht (>10 Jahre), je mehr Verwandte ersten Grades betroffen sind, je höher der EOSS (1-3) ist, desto dringender ist die Behandlungsnotwendigkeit und auch Therapierisiken gerechtfertigt.
- Ein EOSS von 0 muss generell nicht behandelt werden egal welcher BMI vorliegt.
- Bei einem EOSS von 3 und 4 wird die Gewichtsabnahme das Voranschreiten der Endorganschäden zwar verlangsamen, diese aber nicht beseitigen.
- Eine Gewichtsabnahme von 10% des Ausgangsgewichtes ist aus medizinischer Sicht bei etwa 80% der adipösen Patienten ausreichend.
Die Beziehung zwischen Adipositastherapeut und Patient spielt beim Therapieerfolg eine entscheidende Rolle. Die persönlichen Gründe des Patienten für die Gewichtsabnahme sind beim Einstieg in die Therapie sehr bedeutend. Der Therapeut ist verantwortlich für die Kommunikation von Konsequenzen des Handelns/Nichthandelns, nicht für das Resultat der Gewichtsabnahme, er erklärt und begleitet den Weg des Patienten, der Patient geht ihn.
Wie kann Adipositas behandelt werden? – Diätetische Intervention
Fette:
Es ist allgemein etabliert, dass eine zu hohe Zufuhr von gesättigten Fetten ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas darstellt. Die Qualität der Fette ist dabei bedeutend. Die Fettzufuhr aus verschiedenen pflanzlichen Ölen (Olive, Raps, Leinsamen), Nüssen und Kaltwasserfische ist zu erhöhen und die Fettzufuhr aus tierischen Fetten und verarbeiteten Fettquellen (mit Transfettsäuren) deutlich zu reduzieren. Dabei muss die Gesamtmenge immer im Auge behalten werden, da es ziemlich leicht ist, eine Tageszufuhr von etwa 60 g zu überschreiten.
Im Durchschnitt verzehren Erwachsene etwa 100-120 g Fett pro Tag. Eine Reduktion von etwa 40-60 g Fett pro Tag bewirkt eine Verminderung der Energiezufuhr um 400-600 kcal pro Tag. Diese Verminderung der Kalorienzufuhr reicht für eine signifikante Gewichtsabnahme von 5-10% des Ausgangsgewichtes aus. Das Bewusstmachen der Fettmenge in bestimmten Produkten reicht häufig aus, die Aufmerksamkeit zu erhöhen und hat therapeutischen Charakter (1 Scheibe Käse 10 g; 1 Cervelat 30 g; 2 Stück Schokolade 10 g – Tagesmenge aufgebraucht). Hier existieren nun bereits spezielle Therapieansätze zur Ernährungsintervention, die man als Aufmerksamkeitstraining bezeichnet.
Kohlenhydrate:
Low Carb Diets (LCD) sind weiterhin en Vogue, wobei hier zunächst die Begrifflichkeit definiert werden sollte.
Einerseits beachten Menschen den so genannten glykämischen Index von Lebensmittel. Es muss aber festgestellt werden, dass die Daten für den so genannten glykämischen Index in der Praxis kaum standhalten, da wir nicht einzelne Lebensmitteln, sondern ganze Mahlzeiten zu uns nehmen.
Unter einer wirklichen Low Carb Diet versteht man die Reduktion der Kohlenhydratzufuhr unter 150 g pro Tag, wobei ein Erwachsener im Schnitt 300 g Kohlenhydrate pro Tag zuführt. Langsam absorbierbare Kohlenhydrate führen zu einer Verlängerung der Sättigung. Dabei sollte bedacht werden, dass die morgendliche Nahrungszufuhr zu einer Erhöhung der Wärmebildung führt, welche für den Gesamtenergieumsatz nicht unbedeutend sein kann. Die Daten zum Thema Frühstücken und Energieverbrauch sind zwar widersprüchlich, aus ernährungspsychologischen Gründen, für eine Tagesstrukturierung der Ernährung, ist Frühstücken aber unbedingt zu empfehlen, um dem ständigen „Um-sich-rum-essen“ vorzubeugen.
Einige meiner Patienten essen kein Frühstück, Essen dann etwas später und noch mal am Abend und führen eine 16-stündige Nahrungskarenz durch. Auch das funktioniert gar nicht so schlecht.
Insulinresistente, ältere und diabetischen Patienten können von einer ketogenen (mit Ketonurie verbundenen) Diät (KH-Zufuhr < 50 g/d) mehr profitieren, als von einer fettreduzierten Diät. Durch die sehr niedrige Zufuhr von Kohlehydrate kommt es zu einem deutlichen Abbau von Fetten, es entstehen Ketonkörper, die man im Urin nachweisen kann. Da hier auch deutlich Eiweiss abgebaut werden kann, ist eine Begrenzung der Dauer auf sechs Monate ist zu empfehlen, da Proteinabbau z.B. am Herzmuskel ein Risiko dieser Diät darstellt.
Proteine:
Sinnvoll wird eine Low Carb Diet dann, wenn die guten Fette beachtet werden und die reduzierten Kohlenhydrate durch gute Proteine ausgetauscht werden. Dies kann zur Gewichtsstabilität nach einer Gewichtsabnahme beitragen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass ein höherer Proteinanteil zu einer besseren Sättigung und einer Reduktion von Appetit beiträgt. Von besonderer Bedeutung und absolut unterschätzt ist hierbei auch der Erhalt der stoffwechselaktiven Zellmasse, unabdingbar für eine langfristige Gewichtsstabilität. Diätetische Interventionen mit einem hohen Proteinanteil haben einen positiven Effekt auf die Insulinsensitivität, den Blutdruck und die Blutfettwerte.
Bewegung:
Bewegung ist allgemein eine wichtige Komponente für den täglichen Energieverbrauch, welche leicht modifizierbar und gut integrierbar ist in Gewichtsreduktionstherapien.
Bis vor einigen Jahren wurde standardmässig für eine Gewichtsabnahme ein niedrigintensives Training empfohlen. In letzter Zeit häufen sich aber Erkenntnisse, dass für die Energiebilanz der Energieverbrauch durch die Bewegung entscheidender ist. Soweit also der Patient in der Lage ist, darf er so intensiv trainieren wie möglich (selbstverständlich nicht jede Trainingseinheit).
Um eine Gewichtszunahme zu verhindern, ist ein kalorischer Verbrauch von 30 min schnelles Gehen pro Tag ausreichend. Für eine Gewichtsreduktion (ohne gleichzeitige Ernährungsintervention) ist jedoch mehr Bewegung, also 60-90 min/Tag, notwendig. Da dies häufig so nicht realisierbar ist, stellt tatsächlich die Ernährungsumstellung die Therapie der Wahl für eine Gewichtsabnahme dar, zum Gewichtserhalt ist Bewegung besser geeignet. Bei Gewichtsreduktionen von mehr als 10 % vom Ausgangsgewicht reicht aber weder Ernährung noch Bewegung alleine aus.
Digitale Medien zur Therapieunterstützung
eHealth hat gerade in der Therapie der Adipositas massiv Einzug gehalten. Die Benutzung von Smartphone-Applikationen zur therapeutischen Unterstützung können folgende Vorteile bieten:
- Unabhängigkeit der Beratung von Ort und Zeit.
- Intensiveren und häufigeren Kontakt zwischen Therapeut und Patient.
- Bessere Visualisierung und Abgabe von Dokumenten mit standardisierten therapeutischen Inhalten.
- Bei Integration von Therapeuten in derartige Systeme über eine Plattform auch Möglichkeit der individuellen Führung und Abwechslung von standardisierter Therapie und individueller Therapie.
- Objektivere Observation des alltäglichen Lebens der betroffenen Person, sowohl hinsichtlich Ernährung als auch Bewegung.
Seit über zehn Jahren ist bereits die Effizienz von derartigen therapeutischen Systemen mit Studien belegt. In einigen Studien konnten die elektronischen Systeme, obgleich sie extrem unterschiedlich konfiguriert sind, ein besseres Outcome erzielen, als eine Standardberatung.
Module für eine elektronische Beratung werden neuerdings von allen grossen Interventionsprogrammen angeboten wie Weight Watchers, e-Balance, Metabolic Balance.
Für die ärztliche Anwendung finde ich es bedeutend, das seine Verordnungsfähigkeit für den Patienten vorliegt, somit der Krankheitswert der Adipositas anerkannt ist, was aktuell in der Schweiz für die OVIVA App der Fall ist.
Auch bei den Applikationen für die Steigerung der körperlichen Aktivität hat sich was getan. Aus meiner Sicht ist es schon sehr hilfreich, wenn der Betroffene den Schrittzähler im Smartphone angeschaltet und hier versucht, pro Tag wenigstens 6000 besser 10000 Schritte/Tag zurückzulegen. Vorausgesetzt, man ist körperlich in einer guten Verfassung, kann für das Krafttraining z.B. die 7 min Workout-App mit signifikanten Effekten 1/Tag Verwendung finden. Wer unbedingt etwas ehrgeiziger sein möchte, kann für das Krafttraining auch die Nike+Training Club App benutzen. Ich ganz persönlich bin ein Fan der Lifesum-App zur Erfassung der täglichen Ernährungssituation, der Heath Mate App um hin und wieder mit meiner digitalen Badezimmerwaage meine Gewichtssituation im Auge zu haben, der Runkeeper App zur Unterstützung meiner regelmässigen Laufeinheiten. Auch die Fitbit-App ist da sehr schön. Da man immer mal wieder was Neues ausprobieren sollte und auch Abwechslung vor allen Dingen mit koordinativem Anspruch den Energieverbrauch beim Training deutlich erhöhen kann, mache ich Yoga mit Asana Rebel App. Die Empfehlungen zu den Bewegungsapplikationen sind Resultate von 20 Jahren Erfahrung in der Adipositasmedizin und dem individuellen, pragmatischen und praktischen Arbeiten mit sehr vielen Betroffenen und nicht Erkenntnis wissenschaftlicher Studien, wobei tatsächlich die Bindung an eine Therapie grösser ist, wenn Motivationsunterstützung vorhanden ist und auch die Nutzung einer solchen Unterstützung Spass macht.
Pharmakologische Therapie der Adipositas
Seit Februar 2017 ist in der Schweiz die Therapie mit dem GLP-1-Analogom Liraglutide unter dem Präparatenamen Saxenda® zugelassen. Schon vorher war die Substanz seit mehreren Jahren für die Therapie des Diabetes verfügbar. GLP-1 (Glucagon-Like-Peptide-1) ist ein Botenstoff, welcher in tieferen Dünndarmabschnitten des menschlichen Körpers gebildet wird. Man hat ihn auch im Zusammenhang mit der Übergewichtschirurgie sehr gut erforscht. Generell ist bekannt, dass Adipöse weniger von diesem Botenstoff im Blut haben. Dieser Botenstoff wird durch die Präsenz von Nahrung, die beispielsweise dann bei einer chirurgischen Therapie des Übergewichtes sehr viel mehr und auch unverdaut in tiefere Dünndarmabschnitte gelangt, verstärkt ausgeschüttet. Das Präparat wird als Injektion verabreicht einmal pro Tag. Dieser Botenstoff bewirkt, dass einerseits Zucker rascher aus dem Blut verschwindet, die Insulinausschüttung nach dem Konsum von Kohlehydrate viel steiler und rascher erfolgt, dadurch Insulin nicht so lange und plateaumässig im Blut vorhanden ist, dadurch nicht so viel Nahrung sehr wahrscheinlich ins Fettgewebe abdriftet, sondern mehr in das Gehirn und auch in die Muskulatur. All diese Stoffwechseleffekte bewirken eine deutlich bessere Gewichtsreduktion. Zwei von zehn Menschen sprechen auf dieses Präparat beispielsweise so gut an, wie nach einer Übergewichtsoperation. Leider sprechen aber auch zwei von zehn Menschen nicht an, diesen fehlt dann der entsprechende Rezeptor für diesen Botenstoff im Gehirn. Wir sehen in jedem Fall auch bei unserem Patientengut immer eine zusätzliche Gewichtsabnahme durch dieses Präparat, egal ob man mittels einer konservativen Therapie schon behandelt wird oder ob man bereits eine chirurgische Therapie des Übergewichtes hatte. In der Regel nimmt man noch mal 10 % vom Startgewicht ab.
Wir haben insgesamt 242 Patienten neben einer Ernährungstherapie/Bewegungstherapie mit Saxenda® behandelt über mehr als drei Monate. Die durchschnittliche Gewichtsabnahme betrug 16.6 % vom Ausgangsgewicht ± 6.8%, was bei 100 kg eine durchschnittliche Gewichtsabnahme von etwa 15 kg bedeutet.
Nach Beendigung der pharmakologischen Therapie haben 80 % einen leichten Wiederanstieg des Gewichtes innerhalb von einem Jahr um 3.5% erlitten. Eine Langzeitauswertung werden wir perspektivisch vornehmen. Hilfreich war es, zunächst erst die Ernährungstherapie und die Bewegungstherapie zu etablieren, worunter die Patienten bis zu 10 % an Gewicht verlieren konnten, dies meist innerhalb von sechs Monaten. Wenn wir dann die Therapie mit Liraglutide zusätzlich etabliert hatten, haben sechs von zehn Patienten nochmals 10 % des Gewichtes verlieren können.
Dies gibt uns Hoffnung, dass wir in Zukunft durchaus chirurgische Therapien bei einigen Patienten wirklich nicht mehr benötigen.